06 April 2004

Wenn die Befreier zu Unterdrückern werden

25. März 2004, 02:05, Neue Zürcher Zeitung

Kasten: Kindersoldaten - ein trauriges Kapitel

Wenn die Befreier zu Unterdrückern werden
Schwieriger Alltag im Norden und Osten Sri Lankas
Zwei Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) sind die Spuren des Bürgerkrieges im Norden und Osten Sri Lankas noch allgegenwärtig. Die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, die Felder sind noch immer vermint. Darüber hinaus stellt die autoritäre Herrschaft der LTTE nicht nur für die Muslime, sondern auch für viele Tamilen ein Problem dar.


spl. Batticaloa, im Februar

Zwei Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen der Regierung und den tamilischen Rebellen sind die Wunden des 20-jährigen Bürgerkriegs im Norden und Osten Sri Lankas noch lange nicht vernarbt. Wer aus der Hauptstadt Colombo nach Jaffna fliegt, glaubt sich in einer anderen Welt. Das Gefälle zwischen dem relativ wohlhabenden Süden und dem kriegsversehrten Norden ist frappant. Verglichen mit anderen südasiatischen Staaten schneidet Sri Lanka in Statistiken überdurchschnittlich gut ab. Die Lebenserwartung liegt bei 73 Jahren, die Kindersterblichkeit beträgt ganze 1,9 Prozent, die Analphabetenrate 8 Prozent. Im Nordosten herrschen allerdings andere Verhältnisse. Die Sterberate bei Müttern im Kindbett liegt hier fast doppelt so hoch wie im landesweiten Durchschnitt, und während im Süden heute jedes Kind die Schule besucht, gehen laut einer Studie des Uno-Kinderhilfswerks Unicef im Nordosten 50 000 Kinder nicht zum Unterricht, weil ihre Schulen zerstört sind oder es an Lehrpersonal mangelt.

Entvölkerte Landstriche
Wir fahren über den sogenannten Elefantenpass, eine schmale Landzunge, die Jaffna mit dem Rest der Insel verbindet. Während des Krieges war dies eines der am härtesten umkämpften Gebiete, weil sich hier entschied, wer die Kontrolle über Jaffna hatte. Die ansässige tamilische Bevölkerung wurde fast vollständig vertrieben. Schätzungsweise 800 000 Menschen sind im Laufe des Krieges insgesamt geflüchtet - in den Süden und Westen des Landes, ins benachbarte Indien oder ins Exil ins fernere Ausland. 450 000 Vertriebene sind bis heute nicht in ihre Dörfer zurückgekehrt. Die Gegend rund um den Elefantenpass ist menschenleer. Die Zerstörungen des Krieges sind unübersehbar: ausgebrannte Schulhäuser, Spitäler und Verwaltungsgebäude. Auch von den Wohnhäusern sind oft nur Ruinen übrig. Zudem ist das Gebiet immer noch stark vermint. Von Jaffna bis Vavuniya sind die roten Schilder am Strassenrand, die auf die Minengefahr hinweisen, ständige Begleiter. Zwar sind mittlerweile mehrere ausländische Organisationen mit der Beseitigung der heimtückischen Sprengkörper beschäftigt, doch es wird wohl noch sehr lange dauern, bis sich die Menschen hier wieder frei bewegen und die Felder bewirtschaften können.

Die A 9, die wichtigste Verbindungsstrasse zwischen Jaffna und dem Süden, ist seit dem Waffenstillstand im Februar 2002 wieder für Zivilisten geöffnet, und es ist reger Verkehr zu verzeichnen. Einzig Strassenbauarbeiter behindern alle paar Kilometer noch die Fahrt. Zumindest in diesem Bereich scheint der Wiederaufbau schnell voranzuschreiten; ein grosser Teil der A 9 ist bereits frisch geteert.

Ein Staat im Staat
Zwischen Jaffna und der alten Königsstadt Anuradhapura liegt das von den Liberation Tigers of Tamil Eelam kontrollierte Vanni. Die Friedensgespräche sind seit vergangenem April zwar eingefroren, und es ist äusserst umstritten, wie weit die Autonomie der tamilischen Gebiete zukünftig gehen soll. Auch ohne eine Interimsverfassung üben die Tigers im Vanni und in Teilen des Ostens aber faktisch bereits staatliche Funktionen aus - mit eigener Verwaltung, Polizei, Armee, Justiz und Steuerhoheit.

Kilinochchi, das sagenumwobene Dschungelhauptquartier der LTTE, ist de facto nicht viel mehr als ein kleines Nest im Niemandsland. Im Gegensatz zu den Dörfern auf dem Weg ist hier jedoch Geschäftigkeit und Aufbruchstimmung auszumachen. Überall wird gebaut - und schnell wird klar, für wen. Jeder, der zur Führungsriege der Tigers zählt, hat hier ein Büro. Auch sämtliche LTTE-Unterorganisationen, wie die Tamils Rehabilitation Organisation oder das Subcommittee on Gender Issues, haben in einem der neu errichteten Gebäude eine Vertretung. Daneben sind zahlreiche internationale Hilfsorganisationen präsent.

Ausländische Gäste werden in Kilinochchi gerne empfangen und nicht selten dazu instrumentalisiert, den LTTE - die in vielen Ländern noch als terroristische Organisation verboten sind - einen Hauch internationaler Legitimation zu verleihen. In einem Gästehaus der Rebellen treffen wir Sudha Master zum Lunch, den Stellvertreter des Chefs des politischen Flügels der Befreiungstiger, Thamilselvan. In der Eingangshalle hängen über einem riesigen Aquarium zwei überlebensgrosse Porträts Prabhakarans. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass der allmächtige «Leader» auf uns herunterblickt. Der Rebellenchef, der aus Sicherheitsgründen kaum je in der Öffentlichkeit auftritt, ist in Kilinochchi allgegenwärtig.

Keine demokratische Legitimation
Die Tamilen seien enttäuscht, dass seit dem Waffenstillstand so wenig erreicht worden sei, erklärt Sudha Master. Die wichtigste Aufgabe sei die Wiederansiedlung der Vertriebenen, doch die Infrastruktur sei vollkommen zerstört. Wenn die Regierung wolle, dass die Flüchtlinge in ihre Dörfer zurückkehrten, müsse sie eine Basisversorgung gewährleisten. Wie alle Gesprächspartner in Kilinochchi betont Sudha Master, die Tamilen hätten mehr finanzielle Unterstützung aus Colombo nötig. Es sei inakzeptabel, dass allen Distrikten des Landes dieselben Mittel zur Verfügung stünden, obwohl der Norden nach dem Krieg vor unvergleichlich grössere Herausforderungen gestellt sei. Bis heute komme fast die gesamte Wiederaufbauhilfe von ausländischen Hilfsorganisationen.

Sowohl die Regierung als auch ausländische Geldgeber sind freilich mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass es auf tamilischer Seite keinen demokratisch legitimierten Gesprächspartner gibt. Die Tamilen wurden nach der Unabhängigkeit Sri Lankas 1948 von der singhalesischen Mehrheit als Bürger zweiter Klasse behandelt. Mit den Jahren radikalisierte sich der Widerstand gegen die Unterdrückungspolitik Colombos. Als die für einen unabhängigen tamilischen Staat kämpfenden LTTE bei einem Hinterhalt in Jaffna im Juli 1983 13 Soldaten töteten, folgte eine wahre Gewaltorgie. Im ganzen Land gingen Singhalesen gegen Tamilen vor. Sri Lanka versank in einem Bürgerkrieg, der über 65 000 Todesopfer forderte. Nach Ansicht der meisten Tamilen haben die Befreiungstiger der tamilischen Minderheit durch ihren Widerstandskampf Respekt verschafft. Gleichwohl ist zu bezweifeln, dass die LTTE freie Wahlen im Nordosten heute noch gewinnen würden. Denn die Befreier sind vielerorts zu neuen Unterdrückern geworden. Überall, wo wir hinkommen, beklagen sich die Menschen über das autoritäre Regime der Tigers, doch keiner wagt, öffentlich Kritik zu üben. Die Angst vor den Konsequenzen ist viel zu gross.

In den Jahren des bewaffneten Widerstandes haben sich die LTTE zu einer straff geführten militärischen Organisation entwickelt, die mit Begriffen wie Demokratie und Pluralismus wenig anfangen kann. Andersdenkende aus den eigenen Reihen werden kaltblütig beseitigt. Ausserdem verhindert das rigide Steuerregime der Tigers jeden wirtschaftlichen Aufschwung in der Region. Sämtliche in LTTE-kontrollierte Gebiete eingeführten Güter - selbst Material von Hilfsorganisationen - werden mit einer unverhältnismässig hohen Steuer belegt. Entwicklungshelfer äussern sich entsprechend frustriert über die Politik der Tigers. Es sei sehr schwierig, unter den gegebenen Bedingungen Hilfe zu leisten. Die Schweizer Hilfsorganisation Terre des hommes hat bereits ein Latrinenbauprojekt aufgegeben, weil die sanitären Anlagen wegen der Steuern viel zu teuer wurden. Der schwerwiegendste Verstoss der LTTE gegen das Waffenstillstandsabkommen stellt aber sicherlich die Tatsache dar, dass weiter Kindersoldaten rekrutiert werden (siehe Kasten).

Auf die Gefahr einer Diktatur im Nordosten angesprochen, wiegelt Sudha Master ab. «Für Prabhakaran sind der Sozialismus und die Gleichheit aller Individuen sehr wichtig», erklärt er. Der Widerstandskampf habe Disziplin und Einheit vorausgesetzt. Sobald die Tamilen aber das Recht zur Selbstverwaltung erhielten, würden sich die LTTE in eine demokratische Organisation verwandeln. Auch der katholische Bischof von Batticaloa, Kingsley Swampillai, ist überzeugt, dass eine solche Wandlung möglich ist. Demokratie komme nicht über Nacht, argumentiert er wie viele Sympathisanten der LTTE. Diese würden nur etwas Zeit brauchen, sich von einer Militärorganisation in eine politische Partei zu verwandeln. Man möchte dem Bischof gerne glauben, auch wenn die Realität eher pessimistisch stimmt.

Ein ethnischer Flickenteppich
Auf dem Weg von Anuradhapura nach Batticaloa wird die Landschaft karger. Der Monsun war in diesem Winter wenig ergiebig, die sonst üppig grünen Reisfelder sind verdorrt. Da die von den Rebellen kontrollierten Gebiete im Osten einem Flickenteppich gleichen, kommen wir immer häufiger an Checkpoints der Armee und der LTTE vorbei. Meistens verlaufen die Kontrollen reibungslos, nur einmal muss die Fahrt unterbrochen werden. Die zwei schwer bewaffneten LTTE-Kämpfer, die uns kontrollieren, würde man kaum älter als 14 Jahre schätzen.

Während im Norden mehrheitlich Tamilen leben, ist die Ostprovinz ethnisch durchmischt - Tamilen, Singhalesen und muslimische Mauren (Nachfahren arabischer und persischer Händler) stellen je etwa einen Drittel der Bevölkerung. Dies macht eine politische Lösung in dieser Region um einiges schwieriger. Die in den LTTE- kontrollierten Gebieten lebenden Muslime fürchten, dass sie dem Frieden geopfert werden und künftig unter einem Regime leben müssen, das sich wenig um die Rechte der Minderheit schert. Diese Angst ist nicht unbegründet. Nach der Eroberung Jaffnas durch die Rebellen 1990 hatten die LTTE die Muslime aufgefordert, den Norden zu verlassen. 100 000 Menschen flüchteten, und in der Folge kam es wiederholt zu Übergriffen gegen Muslime in den tamilischen Gebieten. Prabhakaran hat sich jüngst zwar für diese Vorkommnisse entschuldigt, und seine Unterhändler bei den Friedensgesprächen haben versprochen, die Minderheiten im Osten in die Autonomiediskussion einzubeziehen. Viele Muslime halten diese Mässigung aber für rein taktisches Kalkül.

Zelebrierung des Märtyrertums
Wir fahren durch Vaharai. Die Bevölkerung in dem zwischen Trincomalee und Batticaloa gelegenen Bezirk war gegen Ende des Krieges von der Armee abgeschnürt und buchstäblich ausgehungert worden. Die Unterstützung für die Rebellen wurde dadurch kaum schwächer. Im Gegenteil, viele tamilische Selbstmordattentäter sollen hier in der Küstenregion rekrutiert worden sein. Für über 200 Selbstmordanschläge werden die Befreiungstiger verantwortlich gemacht. Nicht nur im Ausmass der Gewalt, sondern auch in der Zelebrierung des Märtyrertums stehen die Tigers islamistischen Terrororganisationen im Nahen Osten in nichts nach. Auf der Fahrt kommen wir immer wieder an Denkmälern für getötete LTTE-Kämpfer vorbei. Am grössten und am aufwendigsten geschmückt sind jene, die an junge Frauen und Männer erinnern, die sich der tamilischen Sache als Selbstmordattentäter «geopfert» haben.

Tamilen, Singhalesen und Muslime hatten im Osten früher auf engem Raum zusammengelebt. Heute sind die meisten Dörfer getrennt. Selbst in grösseren Städten wie Batticaloa leben Tamilen und Muslime in separaten Quartieren. Gemeinsam ist ihnen nur noch die Kriegsmüdigkeit. Die Bevölkerung im Osten - unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit - wünscht sich heute vor allem eines, und das ist ein endgültiger Friedensschluss.



Kindersoldaten - ein trauriges Kapitel
spl. Repräsentanten der LTTE streiten im Gespräch rundweg ab, dass weiter Kindersoldaten rekrutiert werden. Die Realität sieht leider anders aus. Bis heute ziehen die Rebellen Mädchen und Knaben ein, zumeist gegen den Willen der Eltern. Trotz dem Waffenstillstand wird von den Familien in den LTTE-kontrollierten Gebieten weiter verlangt, dem Kampf für die tamilische Sache ein Kind zu opfern. Laut dem jüngsten Bericht des Uno-Kinderhilfswerks Unicef befinden sich in den Reihen der Befreiungstiger noch mindestens 1300 Minderjährige. Die Zahl dürfte allerdings noch höher liegen, weil viele Menschen im Nordosten nicht wagen, Zwangsrekrutierungen und andere Übergriffe der LTTE zu melden. Nach Angaben von Unicef wurden 2003 zwar rund 200 Kindersoldaten entlassen, gleichzeitig wurden aber über 700 Minderjährige neu rekrutiert.

Repräsentanten der Sri Lanka Monitoring Mission (SLMM), die im Auftrag der Konfliktparteien den Waffenstillstand überwacht, vermitteln ein ähnliches Bild. Die grosse Mehrheit der Klagen, die momentan bei den 50 skandinavischen SLMM-Vertretern eingingen, kämen von Seiten der tamilischen Bevölkerung und beträfen die LTTE. Am häufigsten gehe es zwar um Enteignungen, Diebstahl, Belästigung und das Eintreiben übermässig hoher Steuern, das gravierendste Problem sei aber weiterhin die Rekrutierung von Kindersoldaten. Die Zahl der gemeldeten Fälle sei im letzten Jahr zwar leicht zurückgegangen. Die Lage sei aber weiterhin alarmierend.

Die LTTE geben zwar zu, dass in der Vergangenheit Kinder in ihren Reihen gekämpft haben. Sie versichern aber, diese hätten sich ihnen freiwillig angeschlossen. Sudha Master vom politischen Flügel der Organisation erklärt, Unterdrückung und Not habe viele Kinder in die Arme der LTTE getrieben. Die Zugelaufenen hätten oftmals ein falsches Alter angegeben, um aufgenommen zu werden. Heute sei man sich aber des Problems bewusst. Prabhakaran selbst habe die Weisung gegeben, keine Kinder mehr aufzunehmen und Minderjährige, die bereits rekrutiert worden seien, zu entlassen. Sudha Master beklagt, die Kindersoldaten würden im Friedensprozess als Propagandainstrument gegen die LTTE missbraucht. Gewisse Leute wollten mit üblen Gerüchten den Ruf der Tiger zerstören. Auch Puleedevan, Mitglied des Political Affairs Committee und des neu geschaffenen Peace Secretariat, kritisiert, Aussenstehende hätten ein verzerrtes Bild von der Lage im Nordosten. Die LTTE hätten jahrelang unter schwierigsten Bedingungen für das tamilische Volk gekämpft. Zwangsrekrutierungen habe es nie gegeben, doch seien möglicherweise einzelne Fehler begangen worden. Das Problem werde nun angegangen, verspricht er.



Die meisten LTTE-Kader haben sich selbst in jungen Jahren der Organisation angeschlossen. Vielen von ihnen dürfte das Verständnis dafür fehlen, dass sie mit dem Einsatz von Kindersoldaten Unrecht begehen. Da die Tiger heute aber nach internationaler Anerkennung streben und auf ausländische Hilfsgelder angewiesen sind, müssen sie sich - ob sie wollen oder nicht - mit der wachsenden internationalen Kritik auseinandersetzen. In ihrem eigenen Interesse sollten sie die Rekrutierung von Minderjährigen stoppen. Die ausländischen Geldgeber wiederum mögen, wenn es um die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien geht, dem Frieden zuliebe manchmal beide Augen zudrücken. In der Frage der Kindersoldaten sollten sie in jedem Fall hart bleiben und finanzielle Unterstützung an klare Konditionen binden.

Quelle - NZZ Online

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