[Von ftd.de, 20:53, 06.01.05]
Die Flutkatastrophe hat die verfeindeten Volksgruppen in Sri Lanka für ein paar Tage vereint. Doch trotz internationaler Appelle flammen die Konflikte zwischen Tamilen und Singhalesen wieder auf.
Gowry Yoganathan hat einen Rechen mit an den Strand gebracht. Gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern sucht der Fischer in den Trümmern seiner Hütte nach Hausrat. In den Steinhaufen, die der Tsunami im Norden von Sri Lanka zurückließ, haben sich blaue Fischernetze verfangen, es riecht nach verfaulten Kokosnüssen. Seit dem Seebeben im Indischen Ozean gibt es hier zwei Sorten von kaputten Palmen: Die von der Flutwelle entwurzelten und die, deren Kronen vor zehn Jahren von den Raketen der vorrückenden Regierungstruppen abrasiert wurden.
Gowrys Hütte lag in dem Teil des Landes, den die tamilischen Rebellen besetzt halten. "Tamil Eelam" nennen sie das Territorium im Osten und Nordosten der Insel, das sie den Regierungstruppen in einem langen Bürgerkrieg abgetrotzt haben. Die Flutwelle machte am 26. Dezember keinen Unterschied zwischen Gowrys Hütte südlich des Ortes Pallai und den Behausungen in jenem Teil der Halbinsel Jaffna, der unter Regierungskontrolle ist. Das Wasser forderte im ganzen Land innerhalb weniger Tage mehr als 30.000 Opfer. Im Krieg wurden mehr als 60.000 Tote gezählt - in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten.
In der Bevölkerung wächst die Hoffnung
Unter den Menschen auf beiden Seiten wächst die Hoffnung, dass die verheerende Flut am Ende den schwelenden Konflikt zwischen dem Mehrheitsvolk der Singhalesen und der tamilischen Minderheit entschärfen könnte. In Jaffna erzählt man sich von Soldaten der Armee, die Rebellen aus den Fluten retteten, und Aufständischen, die Militärs halfen. "Zum ersten Mal waren die Menschen an der Südküste ebenso in Not wie die Menschen im Kriegsgebiet. Das verbindet", sagt Jehan Perera vom National Peace Council in Colombo.
Das mit der Flut wieder erwachte Interesse der internationalen Gemeinschaft an der Region könnte diese Entwicklung fördern. Am Freitag wird US-Außenminister Colin Powell in Sri Lanka erwartet, am Samstag reist Uno-Generalsekretär Kofi Annan an, am Dienstag wird Deutschlands Außenminister Joschka Fischer wird landen. Sie alle werden die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen werden beide zur Sprache bringen. "Man muss die Katastrophe nutzen, um den Konflikt zu beenden", sagte Fischer am Mittwoch. Das sei zwar keine Bedingung für die Hilfe der Bundesregierung, der Bürgerkrieg sei aber ein ernstes Hindernis für den Wiederaufbau. Es sei an der Zeit für eine "nationale Versöhnung".
Von "nationaler Versöhnung" noch weit entfernt
Davon ist Sri Lanka noch weit entfernt. Schon werden wieder Fronten aufgebaut. Die Rebellenarmee Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) beschwert sich, dass die Regierung Hilfslieferungen nicht in die von ihr kontrollierten Gebiete weiterleite. Als die italienische Regierung Hilfsgüter direkt an die Rebellen schickte, protestierte die Regierung in Colombo. In Lagern auf der Regierungsseite in Jaffna wollten tamilische Flüchtlinge keine Hilfe der nationalen Armee annehmen. Es gibt Berichte, wonach die nationale Armee den Rebellen den Weitertransport von Hilfsgütern in die von ihnen kontrollierten Gebiete verweigerte.
Der Weg aus Jaffna ins Rebellenland ist gesäumt von Erinnerungen an die blutigen Kämpfe früherer Jahre. Hinter der Stadtgrenze liegt das Gräberfeld von Chemmanai, wo mehr als 600 Menschen getötet wurden. Das war 1995, als die sri-lankische Armee den größten Teil der Halbinsel zurückeroberte. Damals verloren die Krabbenfischer von Jaffna ihre Existenz. Von der Fabrik, in der der Fang gekühlt und verarbeitet wurde, steht nur noch eine Ruine. Heute wirft hier kaum jemand sein Netz aus, das Gebiet ist Hochsicherheitszone. An den Checkpoints inspizieren erst Soldaten der Regierung den Wagen, nach einer kurzen Fahrt durchs Niemandsland klemmen die Rebellen ein gelbes Plastikschild hinter die Windschutzscheibe der Einreisenden. "Unsere Gäste. Bitte gewähren Sie freies Geleit", steht darauf.
"Die LTTE haben die Hilfe erstaunlich gut organisiert"
Ab hier hat die Regierung von Sri Lanka nichts zu sagen, hier gelten auch nach der Flutkatastrophe die Regeln der Rebellen. Die LTTE haben hier die Toten und Verletzten geborgen, die LTTE haben die Lager für die Obdachlosen errichtet, die LTTE koordinieren die Verteilung der Hilfsgüter.
Die Rebellen nutzen ihren militärischen Apparat jetzt, um Leben zu retten, statt sie zu vernichten. Sie gelten als eine der grausamsten, aber auch als eine der diszipliniertesten Aufständischenarmeen der Welt, was ihnen nun zugute kommt. "Die LTTE haben die Hilfe erstaunlich gut organisiert", sagt Martin Baumann, der für die Deutsche Welthungerhilfe ein Projekt nahe der fast völlig zerstörten Stadt Mullaitivu im Rebellengebiet leitet. "Das liegt an der straffen Struktur."
Der Aufbau von Flüchtlingslagern ist in den Tamilengebieten sowieso Routine - da ist es egal, ob die Menschen vor dem Krieg oder vor dem Wasser fliehen. "Zentren für die vorübergehende Unterbringung" werden die Auffanglager für die Flutopfer genannt - als Unterscheidung zu den 80 "Wohlfahrtszentren", in denen bereits zuvor Flüchtlinge untergebracht wurden. Auch der Fischer Gowry wurde 1995 schon einmal umgesiedelt, als sein Heimatdorf Maruthankerny zur Kampfzone wurde. Doch noch nie mussten die Bewohner des Ortes so leiden wie jetzt. Etwa ein Drittel der 1000 Dorfbewohner kam in den Fluten ums Leben, die übrigen sind obdachlos. Insgesamt verloren auf der Halbinsel Jaffna 48.000 Menschen ihr Zuhause - ein Zehntel der Gesamtbevölkerung.
Naturkatastrophe statt Krieg
Schwestern des katholischen Karmeliterordens fahren von Lager zu Lager, helfen Kindern, ihre Erlebnisse aufzumalen, stehen weinenden Müttern bei und bringen Fischern Atemübungen bei, um ihnen die Angst vor der Rückkehr ans Meer zu nehmen. Mit traumatischen Erfahrungen gibt es im Kriegsgebiet mehr Erfahrung als in anderen Landesteilen. Doch selbst die Schwestern sind überfordert angesichts des Ausmaßes der Katastrophe. "Im Krieg weiß man, dass die Truppen kommen. Dann kann man wegrennen", sagt Schwester Roshanti. "Die Welle hat ohne Vorwarnung in wenigen Minuten ganze Existenzen zerstört."
Ausländische Organisationen in den Tamilen-Gebieten waren besser vorbereitet auf die Katastrophe als Helfer an der friedlichen Südküste. Die Lager waren im Dezember voll mit Vorräten, die sofort verteilt werden konnten. "Wir hatten vor Weihnachten eher einen neuen Krieg erwartet als eine Naturkatastrophe", sagen die Mitarbeiter internationaler Hilfseinrichtungen in Jaffna.
Labiles Kräftegleichgewicht hat sich verschoben
Initiativen wie die von den skandinavischen Regierungen finanzierte Sri Lanka Monitoring Mission, die die Einhaltung des Waffenstillstands aus dem Jahr 2002 überwacht, erhalten durch die Flutkatastrophe neue Aufmerksamkeit. Die Organisation engagiert sich als Streitschlichter. "Sobald ein solcher Konflikt auftritt, rufen wir die Parteien an einen Tisch. Die meisten Zwischenfälle konnten wir auf diese Weise lösen", sagt die Sprecherin der Mission.
Beobachter fürchten, dass die Naturkatastrophe den Konflikt zunächst verschärfen könnte, weil sich das labile Kräftegleichgewicht verschoben hat. "Die LTTE sind durch den Tsunami schwächer geworden", sagt Jehan Perera vom National Peace Council. Es gibt Gerüchte, wonach die LTTE einen Großteil ihrer Marine im Hafen von Mullaitivu verloren haben - was die Rebellenorganisation freilich bestreitet. Dass die Regierung entlang der Küste auf der Halbinsel Jaffna ebenfalls viele Schiffe eingebüßt hat, kann den Verlust nicht ausgleichen.
Sehnsucht nach dem Alltag
Während Diplomaten in aller Welt überlegen, wie aus der Not der Flutkatastrophe die Tugend eines Friedensschlusses werden könnte, sehnen sich die Menschen in der Region um Pallai nach ihrem Alltag zurück - auch wenn es ein bitterer Alltag ist. In diesen Tagen werden die Menschen aus den örtlichen Schulen in Zeltlager an der Küste verlegt, damit die Kinder ab Montag wieder den Unterricht besuchen können.
Der Fischer Gowry will sein Haus wieder aufbauen - und braucht ein neues Netz. Er hat keine Zeit, darüber nachzudenken, ob der Krieg zurückkommt oder nicht: "Und wenn er doch kommt, können wir sowieso nichts machen."
Chronik des Konfliktes
Widerstand 1976 gründen aufständische Tamilen die "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE). Sie kämpfen für die Unabhängigkeit der hinduistischen Tamilen im Nordosten Sri Lankas von der buddhistischen singhalesischen Mehrheit. Seit 1950 wird die tamilische Bevölkerung systematisch benachteiligt.
Eskalation Im Nordosten entwickeln sich 1983 bewaffnete Auseinandersetzungen zum Bürgerkrieg. Erste Friedensgespräche scheitern. Indien sendet Friedenstruppen. Nach ihrem Abzug 1990 eskaliert der Krieg. Präsident Ranasinghe Premadasa stirbt bei einem LTTE-Angriff.
Scheitern Die neue Präsidentin Chandrika Kumaratunga verspricht Frieden, scheitert Mitte der 90er aber an Verhandlungen mit den Separatisten. Die LTTE nehmen Bombenattentate wieder auf, auch in der Hauptstadt Colombo.
Hoffnung 2002 vereinbaren beide Seiten einen Waffenstillstand. Friedensgespräche beginnen in Berlin. Eine LTTE-Splittergruppe geht 2004 in den Untergrund. Ein Selbstmordattentat im Juli des Jahres bedroht den brüchigen Frieden.
Mitarbeit: Benjamin Dierks
Quelle - http://www.capital.de/
08 January 2005
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